Große Familien Wohnungsnot

Aktionsbündnis fordert mehr bezahlbare Wohnungen für kinderreiche Familien
Sehr oft müssten kinderreiche Familien in zu kleinen Wohnungen leben, die in keinem guten Zustand seien, sagt Joachim Barloschky vom Aktionsbündnis Menschrecht auf Wohnen.

VON SABINE DOLL
Bremen.

Malik blickt aus dem Fenster. Draußen kommen und gehen Erwachsene, mit und ohne Kinder. Viele von ihnen besuchen einen kleinen Patienten in der Prof.-Hess-Kinderklinik. Andere sind mit Taschen bepackt, um ein Kind zur Behandlung in das Krankenhaus zu bringen. Malik hat die Klinik seit fast neun Wochen kaum verlassen. Zuletzt für ein paar Tage. Dann hat der Vierjährige Fieber bekommen und musste als Notfall erneut aufgenommen werden. Ohnehin muss er regelmäßig zurückkehren – in die José-Carreras-Tagesklinik. Zur Chemotherapie. Malik hat Leukämie, Anfang März ist der Blutkrebs festgestellt worden. Seitdem ist ein drängendes Problem der Familie Aydin noch viel drängender geworden – aber eine Lösung ist bislang nicht in Sicht.
„Wir brauchen eine neue Wohnung, für meinen Mann und mich – und unsere fünf Kinder“, sagt Maliks Mutter. Eigentlich suchen die Aydins schon seit fünf Jahren ein neues Zuhause im Stadtteil Huchting, sie wollen raus aus der 88 Quadratmeter großen Vier-Zimmer-Wohnung. Weil sie spätestens seit Maliks Geburt zu klein für die Familie ist – und vor allem, weil es in fast jedem Raum Ecken mit Schimmel gibt. Sie haben alles Mögliche unternommen, um den Schimmel in Schach zu halten. Mitarbeiter des Gesundheitsamts haben Feuchtigkeitsschäden in Kinder-, Schlaf-, Ess- und dem Badezimmer bestätigt und empfehlen eine Dämmung der Außenwände. Vom Vermieter, sagt Maliks Mutter, sei keine Unterstützung zu erwarten, er sei insolvent. Auch andere Wohnungen im Haus hätten ein Schimmelproblem.
Auf einen neuen Eigentümer können die Aydins nicht mehr warten, selbst wenn sie wollten: „Aufgrund der Chemotherapie und der damit verbundenen Immunsuppression ist eine schimmelfreie Wohnung aus medizinischer Sicht dringend zu empfehlen“, schreiben die Ärzte der Prof.-Hess-Kinderklinik in einem Attest.
Die Suche nach einer neuen Wohnung ist bisher erfolglos: „Es gibt kaum bezahlbare Wohnungen in der entsprechenden Größe“, sagt Maliks Mutter. „Wir würden auch eine kleinere Wohnung nehmen, die Kinder können ja auch zu zweit in einem Zimmer schlafen. Das wollen sie sogar.“ Sei doch ein Angebot dabei, scheitere dies oft auch daran, „dass Vermieter Bedenken wegen fünf Kindern haben“.
Vor Kurzem habe sie Kontakt zu einem Vermieter eines Hauses gehabt. Einen Besichtigungstermin habe sie zunächst ausmachen können und wollte zwei ihrer Kinder „zur Ansicht“ mitbringen. Der Termin sei aber mit der Begründung abgesagt worden, dass der Eigentümer doch lieber an Familien mit weniger oder gar keinen Kindern vermieten wolle. In manchen Anzeigen stehe direkt, dass ausschließlich an Paare ohne Kinder vermietet werde. „Was ist an Kindern so schrecklich?“, fragt Maliks Mutter. „Wir sind anständig, es ist sauber bei uns zu Hause, das kann sich jeder ansehen. Es ist schade, dass man sich so rechtfertigen muss. Das ist demütigend.“ Auch bei der städtischen Wohnungsbaugesellschaft Gewoba hat die Familie versucht, eine Wohnung zu bekommen: Die Warteliste für Fünf-Zimmer-Wohnungen sei aber bereits voll, habe eine Beraterin ihnen mitgeteilt.
Für Joachim Barloschky vom Aktionsbündnis „Menschenrecht auf Wohnen“ ist die erfolglose Suche der Aydins symptomatisch für ein generelles Problem in Bremen: „Es fehlt an bezahlbaren Wohnungen in unserer Stadt, vor allem auch für kinderreiche Familien“, sagt der frühere Quartiersmanager von Tenever. Viele Familien mit fünf oder mehr Personen müssten in oft viel zu kleinen und auch maroden Wohnungen leben, weil sie auf dem leer gefegten Wohnungsmarkt keine größeren und bezahlbaren in gutem Zustand finden könnten. „Die Stadt muss mehr Verantwortung übernehmen“, fordert er. „Wenn sich Geschwister Zimmer teilen müssen, wie sollen sie da zum Beispiel ihre Bildungschancen nutzen?“ Das Aktionsbündnis fordert, dass die Stadt selbst Wohnungen baut. Es sei ein Erfolg, dass bei Neubauten 25 Prozent Sozialwohnungen sein müssten, aber es müsse auch darauf geachtet werden, dass Flächen und Wohnungen im städtischen Besitz bleiben. „Damit die Investoren nach 20 Jahren nicht aus der Bindung heraus sind“, betont Barloschky. Mit einer Befragung durch Studenten habe er ein Wohnungsprojekt für kinderreiche Familien in Tenever angestoßen, das die Gewoba derzeit umsetze.
„Insgesamt sollen rund 80 Wohnungen entstehen, darunter viele Sechs- bis Sieben-Zimmer-Wohnungen für kinderreiche Familien“, sagt Ralf Schumann, Geschäftsbereichsleiter bei der Gewoba. Auch er weiß: „Die Nachfrage ist da. Aber ihr wurde jahrelang nicht nachgekommen, weil nicht gebaut wurde.“
Malik war jetzt seit gut neun Wochen nicht mehr zu Hause. Dorthin wird er auch nicht mehr zurückkehren. In den kurzen Pausen zwischen den Klinikaufenthalten kommt er mit seiner Mutter bei Verwandten oder Freunden unter. Im Krankenhaus übernachtet sie bei ihm, weil sie den Vierjährigen nicht alleine lassen will. „Meine anderen Kinder sehen uns kaum noch“, sagt sie. Damit der Vierjährige wieder so etwas wie ein Zuhause hat und während der Behandlung zur Ruhe kommen kann, versucht sie nun zunächst, ein kleines Appartment oder eine Zwei-Zimmer-Wohnung für Malik und sich selbst zu bekommen.

Weser-Kurier 13. Mai 2016