Ein Interview - WIR wollen bleiben
Keine Verdrängung aus der Holsteiner Straße
Herr Hacikerimoglu – Sie wohnen in der Siedlung in der
Holsteiner Straße 165 – 205a in Walle. Die einfachen Häuser mit gut 40 Wohnungen sind vor Jahrzehnten gebaut worden, um Wohnungsnot für Geringverdiener und Erwerbslose zu lindern. Die Häuser waren bis vor einigen Jahren im Besitz der Bremischen, wurden während der Privatisierungswelle in Bremen an die Vitus-Gruppe verkauft. 2014 hat die Deutsche Annington/Vonovia diese übernommen. Jetzt versucht Vonovia, die Mieter herauszudrängen, um die Häuser abreißen zu lassen und teure Wohnungen im aufstrebenden Walle zu bauen. Aber erst mal zu Ihnen und den übrigen
BewohnerInnen der Siedlung Holsteiner Straße...
Seit wann leben Sie und Ihre Familie hier in der Siedlung?
Ich lebe mit meiner Frau, meinen 6 Kindern sowie meiner Schwiegermutter in zwei Wohnungen seit 15 Jahren. Also mit drei Generationen. Im selben Block wohnen meine Eltern mit einem Bruder von mir sowie in einer anderen Wohnung mein Bruder mit seiner Frau und Kind. Meine Eltern leben seit 36 Jahren in der Holsteiner Straße 203, wo ich vor meiner Hochzeit auch gelebt habe.
Die meisten BewohnerInnen der Holsteiner Straße sind Gastarbeiter aus drei Generationen, haben bei AG Weser, Klöckner, Mercedes, Nordmende und der deutschen Bahn gearbeitet. In unserer Familie sind Erzieher, Schlosser, Studenten und Friseure vertreten.
Was bedeutet die Siedlung und das Umfeld für Ihre Familie und die meisten übrigen BewohnerInnen?
Die Wohnungen sind klein und nicht sehr komfortabel, aber das Umfeld ist ideal für Familien mit Kindern und Leben mit mehreren Generationen. Auf dem grünen Gelände um die Häuser gibt es gefahrlose ideale Spielmöglichkeiten für die Kinder ohne Straßenverkehr, Sitzplätze vor den Häusern, wo oft zusammen Tee getrunken oder gegrillt wird. In kleinen gepflegten Gärtchen wachsen die Weinblätter, die wir für Dolmas brauchen. Gute Kita und Schule sind nah.
Gegenseitige Unterstützung ist selbstverständlich, mit fast allen BewohnerInnen. Besorgungen, Behördengänge, manchmal auch Hilfe bis hin zu Pflege. Das alles nützt den Kindern und den Alten, die hier verwurzelt sind. Es ist vieles da, was wir woanders so nicht mehr haben würden – ein Stück zweite Heimat.
Der Zusammenhalt und das gegenseitige Vertrauen ist das Besondere hier. Dafür setzen sich viele Menschen hier aktiv ein. Das ist manchmal auch ein hartes Stück Arbeit, aber die Mühe lohnt sich.
Das hört sich fast nach einer Idylle an mitten in einer großen Stadt, in der so viele sich nur um sich selber kümmern und nichts vom Nachbarn wissen wollen...
Gibt es nicht auch Schwierigkeiten in der Siedlung?
An den Wohnungen müsste einiges gemacht werden, bessere Fenster, Warmwasser, Duschen. Vieles haben die Menschen hier schon selbst gemacht. Vor allem aber müssten alle durch Tod oder Wegzug von Mietparteien frei gewordenen Wohnungen wieder vermietet werden. Das wird schon seit Jahren nicht mehr gemacht. So stehen Wohnungen mit guter Bausubstanz leer und drohen zu verfallen. Dabei werden die ungefähr 20 Wohnungen doch dringend gebraucht, und es
gibt konkrete Anfragen.
In diesem Jahr ist dann viel passiert – was hat Vonovia vor?
Vonovia hat die Mietparteien einzeln schriftlich zu sich bestellt mit dem Ziel uns zum Auszug zu bewegen. Sie könnten in andere Siedlungen der Vonovia einziehen.
Zunächst dachten wir, dagegen können wir als Mieter nichts machen, aber dann kam unerwartete Unterstützung vom Aktionsbündnis Menschenrecht auf Wohnen, die von unserer Situation erfahren hatten. Wir haben eine erste und später eine zweite Mieterversammlung organisiert. So haben wir beschlossen, uns nicht vertreiben zu lassen und an die Öffentlichkeit zu gehen.
Schließlich wurde im Mai ein großes Nachbarschaftsfest organisiert, um unser Anliegen breiter bekannt zu machen. Dort wurden die Gäste aus der Nachbarschaft nicht nur mit viel Selbstgemachtem, mit Grill-Würstchen, Salaten und Getränken bewirtet. Es gab Spiele für Kinder, Musik und Tanz. Und natürlich viele Gespräche mit Nachbarn und ehemaligen Bewohnern.
Im Mittelpunkt stand aber unsere öffentliche Erklärung:
Achtung – die Vonovia will uns vertreiben! Helft uns – wir wollen bleiben! 25 Männer, Frauen und Kinder standen auf der Bühne, als die Erklärung verlesen wurde. Für diese Erklärung werden auch Unterschriften gesammelt, die den Behörden übergeben wurden und werden.
Von wem haben Sie Unterstützung erfahren – und von wem nicht?
Vor allem mit Rat und Tat vom Aktionsbündnis Menschenrecht auf Wohnen. Im Beirat Walle gab es einen Beschluss, dass die Wohnungen erhalten und saniert werden sollten. Konkret unterstützen uns Beiratsmitglieder der Linken. Leider hat der Weser Kurier nur am Rande über unser gelungenes Nachbarschaftsfest berichtet. Und gar keine Unterstützung haben wir bisher von der Behörde für Bau und der Sozialbehörde bekommen. Und auch nicht von der Vonovia. Dabei ist uns klar, dass uns niemand eine bezahlbare Wohnung für neun Menschen einer Familie vom
Kleinkind bis zu den Großeltern in einem intakten Umfeld anbieten kann.
Wie geht es weiter?
Wir werden bleiben. Wichtig ist dafür, dass wir uns auch weiter um Unterstützung in der Öffentlichkeit bemühen. Dazu gehört auch, Verbindung zu den Menschen in den anderen Siedlungen mit Einfach-Wohnungen zu haben. Sie haben die gleichen Probleme wie wir und auch zur Vernetzung der Vonovia-MieterInnen, die sich gegen Mieterhöhungen wehren.
Es darf einfach nicht sein, dass ein großer Konzern Menschen aus ihren Wohnungen und ihrem Lebensraum verdrängt. Politik und Medien in Bremen müssen sich dafür einsetzen, dass die Vonovia unsere Häuser saniert und die leer stehenden Wohnungen wieder vermietet.
Interview: Traudel Kassel
aus Zeitung: WIR September 2016